In den letzten Tagen nehmen die Berichte über missmutige Äußerungen und sogar Demonstrationen gegen die derzeit noch gültigen Beschränkungen in Zusammenhang mit COVID-19 massiv zu. Dies veranlasste mich diese Zeilen zu schreiben. Entgegen den sonst hier eigentlich für das medizinisch bewanderte Publikum veröffentlichten Beiträgen möchte ich explizit auch alle anderen hier ansprechen und um etwas mehr Verständnis für die derzeitige Situation werben.
Ja, auch ich würde liebend gerne wieder mit meiner Familie ins Restaurant gehen, mich mit Freunden treffen und einfach wieder all das unbeschwert tun, was ich auch vor dieser Sch…. gerne getan habe. Aber ich kann die Notwendigkeit der Einschränkungen nachvollziehen. Und ja, auch mir geht etwas der Stift mir dieses Virus einzufangen. Beruflich mit genügend gesichert oder auch ungesichert Erkrankten in Berührung, altersbedingt 50+ und vor einigen Monaten ne Herz-OP – also mal definitiv zur Risikogruppe gehörend.
All denen welche in den heutigen Tagen postulieren dass ja die Infektionsrate schon so gering ist, man alles im Griff habe, die Maßnahmen vollkommen übertrieben wären oder Krankenhausbetten ja nie gefehlt hätten und man ja bereits alles überstanden hätte muss ich leider entgegenhalten, dass ich mir dessen in keinster Weise sicher bin.
Das Problem ist, dass eines der wenigen Dinge welche wir sicher über dieses Virus wissen das ist, dass wir eigentlich so gut wie nichts darüber wissen. Der Übertragungsweg via Tröpfcheninfektion ist ebenfalls gesichert, was das Tragen einer Maske (und sei es eine selbst genähte Mund-Nasen-Maske) zur Abschwächung der Übertragung sowie das Halten von Abstand aus selbigem Grund eigentlich jedem verständlich machen sollten. Die Verwendung von FFP-Masken mit Ausatemventil sollte jedoch in der Öffentlichkeit zwingend vermieden werden. Diese Masken sind der Verwendung auf Infektstationen zum Schutz des Personals vorbehalten da die Ausatemluft inkl. der Viren ungefiltert in die Umluft geblasen werden.
Argumente wie „es trifft ja eh nur ältere und geschwächte Personen (wie letztlich auch von einem OB geäußert) sind erstens unethisch und zweitens nicht ganz richtig. Ja, natürlich trifft es geschwächte und vorerkrankte Menschen öfters mit voller Wucht und ja, diese sterben auch gehäufter. Definitiv falsch jedoch ist, dass es nur Menschen trifft, welche in einem halben Jahr oder Jahr eh gestorben wären [1]. Auch bei jüngeren Patienten ist ein schwerer Verlauf mit allen begleitenden Komplikationen ebenfalls möglich [2].
Aus England und auch den USA erreichen uns Meldungen über die gehäufte Beobachtung von Kindern welche Symptome eines Kawaski Syndroms aufweisen [3]; eine Erkrankung welche bei genetisch Prädisponierten zu einer massiven Entzündung im Gefäßsystem führt und auch bei den Kleinsten zu massiven Schäden am Herz und zu Schlaganfällen führen kann. Auslöser ist vermutlich eine Triggerung des Immunsystems bei Infekten. Also eigentlich nichts Außergewöhnliches, da jeglicher Infekt dahinterstecken kann – außergewöhnlich ist jedoch die nun gehäufte Beobachtung dieses eher extrem selten auftretenden Syndroms.
Ebenso scheint COVID-19 in Verbindung mit einer gestörten Blutgerinnung zu stehen. Eine Thromboseneigung ist bei Intensivpatienten auch nicht allzu selten. Allerdings treten bei COVID-19 Patienten diese scheinbar auch gehäuft auf, wenn sie noch nicht einmal hospitalisiert sind. Ein Fall ist aus dem eigenen Kollegenkreis bekannt, aus New York häufen sich die Meldungen über junge (30 – 50 J) SARS-CoV-2 positive Patienten mit Symptomen eines Schlaganfalles.
All dies Medizinische ist nicht gesichert; wie auch. Wie oben schon erwähnt, wissen wir viel zu wenig über diese Erkrankung und lernen täglich dazu. Dies ist auch der Grund dafür warum oftmals heute getroffene Aussagen morgen schon wieder hinfällig sind oder genau das Gegenteil empfohlen wird. Genau das ist Medizin; eine fließende und sich ständig mit Neuerungen füllende Wissenschaft.
Auch scheint es Hinweise zu geben, dass das Virus bereits heute verschiedene Mutationen aufweisen kann [4] was die ganze Situation nicht gerade einfacher machen würde.
Wir können sicherlich morgen alles wieder auf Null stellen und unserem vorher gewohnten Lebensstil frönen. Vernünftig wäre dies jedoch auf jeden Fall nicht. Wir würden Gefahr laufen uns einer zweiten Welle mit umabschätzbarer Wucht gegenüber zu sehen welche dann auch vermutlich durch unser Gesundheitssystem nicht mehr zu stemmen wäre. Ein gutes Beispiel hierzu wären die Zahlen des Verlaufs der Pandemie der Spanischen Grippe 1918 – hier hat ein genau solches Verhalten dazu geführt dass in der zweiten Welle wesentlich mehr Menschen als in der Ersten verstarben.

Ich würde also sagen wir halten einfach noch ein wenig die Füße still und hoffen, dass die heute erreichte niedrige Rate der Neuinfektionen dort bleibt wo sie ist und schnellstmöglich ein Impfstoff zur Verfügung steht. Denn unser Gesundheitssystem ist bei weitem nicht so gut aufgestellt wie es in dieser Krisenzeit immer den Anschein macht. Leere Intensivbetten sind im Regelbetrieb eher so gut wie nie vorhanden und in diesen Tagen dem Umstand geschuldet dass erstens alle Elektiveingriffe abgesagt wurden und zusätzlich noch weitere Intensivkapazitäten geschaffen wurden.
[1] Hanlon P, Chadwick F, Shah A et al. COVID-19 – exploring the implications of long-term condition type and extent of multimorbidity on years of life lost: a modelling study [version 1; peer review: awaiting peer review]. Wellcome Open Res 2020, 5:75 (https://doi.org/10.12688/wellcomeopenres.15849.1)
[2] Nach verhängnisvoller Reise beginnt Corona-Drama um Miriam (27): „War erst wütend, dass alle so übertreiben“ (TAZ online abgerufen 03.05.2020)
[3] PICS Statement: Increased number of reported cases of novel presentation of multi- system inflammatory disease (online abgerufen 03.05.2020)
[4]Patient-derived mutations impact pathogenicity of SARS-CoV-2.

Danke, Jürgen!
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